„Wir sind noch früh dran!“ – oder warum Krypto einfach nicht vorankommt
1. Einleitung
Wenn du diesen Satz schon mal in einer dieser „Communities“ gelesen hast, bist du höchstwahrscheinlich im Kryptobereich unterwegs. Es ist menschlich, emotionale Fehlentscheidungen mit aller Kraft zu verteidigen – das nennt man kognitive Dissonanz. Sich einzugestehen, dass man auf dem Holzweg ist, wirft zu viele unbequeme Fragen auf. Dieses Verhalten kennen wir aus vielen Lebensbereichen: Finanzen, Politik, Beziehungen.
In meiner Analyse ist es mittlerweile ein persönlicher Risikomarker geworden, wenn eine Investorengruppe ein Projekt mit völliger Faktenfreiheit verteidigt – ein Projekt, das objektiv betrachtet schlecht ist und nichts liefert. Wenn wir ehrlich sind: Das trifft auf einen Grossteil der Krypto-Projekte zu. Auch an der Börse gibt’s Unternehmen, die mehr heisse Luft als echten Wert verkaufen. Das ist okay – solange man sich dessen bewusst ist. Wer kurzfristig denkt, kann sogar davon profitieren, solange man sich nicht von den Geschichten dieser Gruppen blenden lässt.
2. Was bedeutet „Wir sind noch früh dran“ überhaupt?
Fakt ist: Krypto gibt’s jetzt seit über 10 Jahren. Die Börse existiert seit über 400 Jahren. IT und Software sind seit mindestens 40 Jahren fester Bestandteil unseres Alltags. Wir haben also genug Erfahrung mit Finanzen und Benutzerfreundlichkeit gesammelt.
„Wir sind noch früh dran“ ist längst zur Ausrede verkommen – eine bequeme Erklärung, warum das eigene Projekt angeblich kurz vor dem Durchbruch steht, während der Rest der Welt es einfach nicht kapiert. Dieses Narrativ hatte anfangs seine Berechtigung, als die Technik tatsächlich jung war. Aber nach zehn Jahren ist klar: Entweder entwickelt sich etwas fundamental weiter – oder es bleibt auf ewig eine Spielwiese für Nerds. Und Hand aufs Herz: Krypto-VCs stecken hunderte Millionen in diese Projekte. Willst du mir ernsthaft erzählen, dass da kein Budget für UX-Design übrig ist?
3. Warum komplizierte Produkte in Krypto gewollt sind
Klingt widersprüchlich, oder? Warum macht man Produkte nicht einfacher und öffnet sich damit für mehr Nutzer und Kapital? Ganz einfach: Weil man das gar nicht will. Und hier ist der Grund.
Risiko ist ein zentraler Bestandteil jeder Investition. Und Finanzmärkte leben davon, dass sie ineffizient sind – also davon, dass Informationen nicht allen gleichzeitig zur Verfügung stehen. Wenn nur ein kleiner Kreis erkennt, worin der wahre Wert eines Projekts liegt, kann er davon profitieren. So funktionieren Märkte.
Im Krypto-Bereich ist das zur Perfektion getrieben worden. Alles basiert auf zukünftigen Versprechen und dem Hype darum. Die Produkte selbst? Kompliziert bis zur Unbenutzbarkeit. Aber genau das gefällt vielen „Investoren“: Wer durchblickt, fühlt sich überlegen. Wer’s nicht versteht, ist halt „nicht bereit für Krypto“.
Ich sehe das häufig in der Softwareentwicklung – und Krypto bringt IT und Finanzen erstmals wirklich zusammen. Für viele Techies ist das ein Ego-Boost. Doch was ist das Ergebnis? Risiken werden versteckt. Wenn du Geld verlierst, heisst es: „Selbst schuld. Du verstehst halt kein Krypto.“ Kommt dir bekannt vor? Dachte ich mir.
4. Risiken? Welche Risiken?
Viele Projekte werben mit enormen Renditen – aber über Risiken spricht kaum jemand. Und hier geht’s nicht um fallende Umsätze wie bei börsennotierten Unternehmen. Es geht um technische Risiken.
In der Unternehmens-IT wird genau analysiert, wie stabil ein Softwaremodul ist. In Krypto? Da ist es oft kaum möglich, überhaupt rauszufinden, was im Code steckt. Viele Audits sind fragwürdig. Und es gibt Fälle, in denen bekannte Schwachstellen absichtlich nicht veröffentlicht, sondern verkauft wurden – an Gruppen, die damit gezielt Hacks oder Rug Pulls durchführen. Klingt nach Verschwörung? Leider Realität.
Natürlich sagt dir kein Projekt freiwillig, was alles schiefgehen kann. Aber wenn man sich die Landschaft anschaut, unterscheiden sich die meisten Finanzprodukte nur noch durch ihre Rendite. Und genau danach entscheiden die meisten User.
Dabei wäre es mindestens sinnvoll zu hinterfragen: Warum zahlt Anbieter A für denselben Service mehr Zinsen als Anbieter B? Warum läuft ein Token auf dieser Chain anders als auf jener? Und warum werden Unterschiede innerhalb der eigenen Produktlinien nicht mal ansatzweise transparent gemacht?
Die Antwort ist einfach: Wer aufklärt, schreckt ab. Und das will man nicht.
5. Von „Communities“, die keine sind
Ein genereller Tipp: Meide Gruppen, in denen über das beworbene Investment diskutiert wird. Denn dort geht es nicht um Inhalt, sondern um Selbstbestätigung. Jeder versucht, andere zu überzeugen – damit er sich selbst besser fühlt. Wie beim Rauchen: Wenn andere auch rauchen, fühlt man sich nicht mehr ganz so schlecht.
Inhaltlich findest du dort selten etwas Relevantes. Kritik wird oft mit „Wir sind noch früh dran! Chill mal!“ abgebügelt. Dieser Reflex ist weit verbreitet und zeigt vor allem eines: Die Beteiligten sind meist absolute Anfänger in Sachen Investment und Finanzen.
Mittlerweile setze ich das Wort „Community“ in Anführungszeichen, wenn es um Krypto geht. Denn was da passiert, ist oft mehr Sekte als Gemeinschaft. Eine echte Community unterstützt sich gegenseitig, verfolgt gemeinsame Ziele und lernt miteinander. Im Krypto-Space ist es oft eher ein Kult. Wer Erfahrung hat, hält sich fern. Die Infoqualität ist gleich null – oder dient höchstens dazu zu erkennen, wann der Hype am Zenit ist. Dann wird’s Zeit, auszusteigen.
6. Und die Lösung?
Regulierung. Punkt. Ich weiss, das klingt für viele nach Blasphemie – schliesslich gilt Krypto als „frei“, unreguliert, unabhängig vom Staat. Aber genau das führt zu einem riesigen Betrugsproblem. Und je mehr Leute einsteigen, desto mehr Scams gibt es.
Projekte müssen Verantwortung übernehmen – wie echte Unternehmen. Das senkt die Renditen, klar. Aber es zwingt sie auch, sich mehr um ihre Nutzer zu bemühen. Die Folge: bessere UX, mehr Professionalität, weniger heisse Luft.
Wie könnte das aussehen?
Erstens: Pflicht zur Offenlegung – wie bei börsennotierten Firmen. Quartalsberichte, Risikoberichte, klare Zahlen.
Zweitens: Anlegerschutz – etwa durch Versicherungstöpfe wie bei traditionellen Brokern (z. B. SIPC).
Drittens: Lizenzpflicht – Projekte und Börsen sollten sich registrieren und bestimmte Standards erfüllen müssen, so wie es Broker und Finanzberater tun.
7. Worauf du achten solltest
Ja, das klingt trocken. Und klar, auch Regulierer versagen mal – siehe FTX. Aber es gibt Projekte, die freiwillig solche Standards einführen. Leider fehlt aktuell oft der Markt dafür. Wir als Nutzer haben die Macht, das zu ändern – indem wir Projekte meiden, die ihre Risiken vertuschen.
- Transparenz & Offenlegung:
Liefert das Projekt regelmässige, detaillierte Updates? Werden Risiken benannt? Wer transparent ist, hat meist nichts zu verstecken.
- Unabhängige Audits:
Hat das Projekt regelmässige, externe Sicherheitsprüfungen? Werden die Ergebnisse veröffentlicht?
- Regelkonformität:
Hält sich das Projekt an AML- und KYC-Vorgaben? Gibt es eine rechtliche Struktur?
- Team & Track Record:
Wer steckt dahinter? Haben die Leute echte Erfahrung in relevanten Bereichen? Oder ist es wieder mal nur ein „Anon-Team“ auf Twitter?
- User Experience:
Ist das Produkt benutzbar? Oder braucht man erstmal fünf Tutorials und drei Discord-Channels?
- Community-Feedback:
Was sagt die Community? Gibt es echte Diskussionen oder nur Hype und Memes?
- Klare Roadmap:
Gibt es einen realistischen Plan? Oder nur leere Versprechen und Buzzwords?
- Partnerschaften:
Sind die Partnerschaften echt? Gibt es belastbare Belege oder sind es nur Logos auf der Website?
8. Fazit: Wie es mit Krypto weitergehen kann
Die Branche steht am Scheideweg. Der Spruch „Wir sind noch früh dran“ ist zur Krücke geworden, um die echten Probleme zu kaschieren. Doch genau dieses Selbstbild muss aufhören.
Was es jetzt braucht:
Radikale Transparenz – Risiken offenlegen statt verstecken.
User-zentriertes Design – weg vom Tech-Nerd-Fokus, hin zur echten Nutzbarkeit.
Regulatorische Reife – zusammen mit Aufsichtsbehörden Vertrauen aufbauen.
Kritikfähige Communities – Schluss mit toxischer Positivität, her mit echten Diskussionen.
Die Verantwortung liegt bei uns allen. Projekte müssen liefern – und Nutzer dürfen nicht länger nur auf Hype reagieren.
Krypto hat riesiges Potenzial. Aber um es zu entfalten, muss die Branche erwachsen werden. Es reicht nicht, nur zu träumen. Jetzt ist die Zeit zu handeln. Schluss mit Ausreden.